Preisverleihung 14. Oktober 2024
Preisverleihung 14. Oktober 2024
Am Anfang scheint alles schon zu Ende zu sein: Der Vater trinkt und taucht nur selten auf, die Mutter lässt ihre Wut an den Kindern aus, die Mitschüler meiden das Mädchen, der kleine Bruder kapselt sich ab. Und doch gibt es eine Kraft, die das Mädchen trägt. Die Bilder aus „Brehms Tierleben“, die sie bewundert, der Traum vom kleinen Haus mit Garten und immer wieder Menschen, die ihr etwas bedeuten und die sie halten. Eines hat sie gelernt: Man muss sich holen, was man braucht. Nachdem sie mehrfach beim Ladendiebstahl erwischt wird, erweist sich das Kinderheim, in das sie kommt, überraschend als ein Refugium, wo Kindheit erstmals gelebt werden kann.
Leere Schnapsflaschen, Schläge, tagelanger Hausarrest, ein hilfloser Bruder, eine unberechenbare Mutter mit wechselnden Männern im Schlepptau – so sieht der Alltag von Angelika Klüssendorfs heranwachsender Heldin aus. Doch das Mädchen besitzt eine eigentümliche Zähigkeit und beißt sich durch. Mit fotografischer Präzision nimmt die Autorin das DDR-Milieu in den Blick. Sie beherrscht die Kunst der Aussparung. Ihre Sprache ist prägnant und knapp, ihre Protagonistin eine Verlorene, die versucht, das System auszutricksen. Ein vielschichtiges Psychogramm und ein verstörender Pubertätsroman.
Die Kindheit ist vorüber, aber erlöst ist das Mädchen deshalb noch lange nicht. Das Mädchen, das sich mittlerweile April nennt – nach dem Song von Deep Purple –, hat die Zeit im Heim hinter sich, die Ausbildung abgebrochen und eine Arbeit als Bürohilfskraft zugewiesen bekommen. Zwischen alten Freunden und neuen Bekannten versucht sie sich im Leipzig der späten 70er-Jahre zurechtzufinden, stößt dabei oft an ihre eigenen Grenzen und überschreitet lustvoll alle, die ihr gesetzt werden, am Ende mit ihrer Ausreise auch die zwischen den beiden Deutschlands.
Endlich geht es weiter mit dem Mädchen, das sich nun (nach einem deep purple Song) April nennt. Es sind die späten 70er Jahre in Leipzig und die frühen 80er in West-Berlin, die April zwischen VEB-Kombinat, Psychiatrie, Ausreise und dem Leben selbst taumeln lässt, immer zwischen zartem Glück und totalem Versagen, getrieben aus trostloser Kindheitsvergangenheit in eine ungewisse Zukunft. Angelika Klüssendorf versteht es prächtig uns in Aprils Sog zu ziehen. Lebensprall und traurig, nüchtern und klar, unsentimental und präzise, mit großer Lakonie: ein Meisterwerk - knapp 25 Jahre nach der Wende.
Mit "Das Mädchen" und "April" – beide auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis – schrieb Angelika Klüssendorf die Geschichte einer starken jungen Frau, die ihren Weg geht unter widrigen Umständen. "Jahre später" erzählt nun von der intensivsten, aber auch zerstörerischsten Beziehung des erwachsenen Mädchens April – ihrer Ehe. Auf einer Lesung lernt April einen Mann kennen, der ihr zunächst durch seine dreist raumnehmende Art auffällt. Es ist nicht Sympathie, die sie zusammenführt. Es ist eine andere Form der Anziehung: Intensität. Eine schicksalhafte Begegnung. Denn Ludwig, der Chirurg aus Hamburg, wird für April zum Lebensmenschen werden – und April für ihn. Im Guten wie im Schlechten. Angelika Klüssendorf erzählt, wie eine Liebe zwischen zwei radikalen Einzelgängern entsteht, die beide mit ihren eigenen Mitteln versuchen, ins Soziale zu finden und zu sich selbst. Es ist eine Geschichte von Öffnungsbereitschaft, glühender Gemeinsamkeit, aber auch den unaufhaltsamen Fliehkräften, die das Paar auseinandertreiben. Ohne jemals Partei zu ergreifen oder seine Figuren zu denunzieren, entwickelt "Jahre später" die Anatomie einer toxischen Partnerschaft. Als Leser wünscht man bis zuletzt, dass es gelingen möge, und zugleich, dass es endlich ein Ende hat mit den beiden. Messerscharfe Prosa, die keinen Moment lang unberührt lässt.
Das Mädchen ist zurück: In zehn Geschichten entfaltet Angelika Klüssendorf ein Kinderleben in der DDR in den 60ern und 70ern, geprägt von Ungeborgenheit und Sehnsucht. Nach dem Tod der geliebten Großmutter muss das Mädchen Übergriffen und Teilnahmslosigkeit begegnen. Es ringt darum, seine Eltern auszuhalten und zu verstehen und die Schwester zu beschützen. Lichtblicke liefern Bücher, das Lesen bietet selbst im Kinderheim noch einen Ausweg. Die Kaschnitz-Preisträgerin erzählt die Vorgeschichten zum Erfolgsroman „Das Mädchen“ neu, die vor zwanzig Jahren erschienen und nicht mehr lieferbar sind. Und sie überprüft schonungslos, was nicht erzählt wurde und warum. Ist Wahrhaftigkeit im Erzählen von sich möglich? Autofiktion, radikal und bewegend!