Preisverleihung 14. Oktober 2024
Preisverleihung 14. Oktober 2024
Ludwig Kaltenburg arbeitet in den dreißiger Jahren in Posen. Als Kind begegnet ihm der Erzähler dort zum ersten Mal. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs flüchtet der Junge mit seinen Eltern nach Dresden. Später studiert er dort Ornithologie, was ihn erneut in Kontakt zu Kaltenburg bringt. Ein Panorama deutscher Geschichte von den dreißiger Jahren über die Gründung und das Ende der DDR bis in die Gegenwart.
Zwei Freunde träumen vom antikapitalistischen Betrieb im Kapitalismus. Mit ihrer Hippie-Gartenlaubenfirma gelingt ihnen im „Geschäftsjahr 1968/69“ der Durchbruch, sie entwickeln das erste diskoreife Stroboskop-Licht und feiern Premieren in den ersten Psychedelic-Clubs. In diesem grellen aber umso realistischeren Roman erinnern die 68er mit ihren Visionen, Illusionen, Drogen- und Finanzcrashs unvermutet an die Neunziger.
Berlin 2005. Im Schöneberger Café Fler, einem Asyl der Übriggebliebenen aus dem alten Westberlin, sitzt ein Mann von sechzig Jahren. Kein Eigenheim, keine Familie, keine Rentenansprüche. Vor Jahren hatte er zweimal im Blitzlicht der Geschichte gestanden: das erste Mal um 1968, als Miterfinder des Disco-Stroboskops und Hippie-Businessman; das zweite Mal Ende der Siebziger, als Irrwisch in der jungen Mauerstadt-Bohème mit ihren künftigen Weltstars, Opfern und Verrätern. Davor, dazwischen und dahinter lagen Schattenzeiten, wo sich die verborgenen, aber nicht weniger spektakulären Dramen dieses Lebens abspielten. Mit elegantem Understatement, doch ohne Rücksicht auf Verluste zieht Bernd Cailloux die Lebensbilanz von einem, der von Bilanzen nie viel wissen wollte.
Das Zeitalter, das wir kennen, ist längst eingeschlafen. Im einstigen Europa gibt es nur noch drei riesige Städte. Die Welt gehört den Tieren, und wird vom Löwen Cyrus Golden gelenkt. Als große Gefahr droht, schickt er den Wolf Dmitri als Diplomaten aus, einen Verbündeten zu suchen. Die Reise führt den Wolf bis an den Rand seiner Welt, wo er erkennt, „warum den Menschen passiert ist, was ihnen passiert ist“.
Eine „florifaunische Zivilisation“ hat die Erde erobert und will es besser machen als die Menschen. Wunderbare Figuren, die sich nach Herzenslust verwandeln, bevölkern diesen großen spekulativen Roman. Neben intellektueller Herausforderung und bester Unterhaltung, bietet er dem Leser eine abenteuerliche Erkundungsreise: nach neuen Formen des Umgangs, die man endlich menschlich nennen könnte.
Ein Chef stürzt ab. JohannHoltrop erzählt die Geschichte eines Chefs aus Deutschland in den Nullerjahren. Der charismatische, schnelle, erfolgreiche Vorstandsvorsitzende Dr.JohannHoltrop, 48, seit drei Jahren Herr über 80 000 Mitarbeiter und einen Jahresumsatz von fast 20 Milliarden weltweit, ist aus der Boomzeit der späten 90er Jahre noch ganz gut in die neuen, turbulenten, wirtschaftlich schwierigeren Zeiten gekommen. Die Handlung setzt ein im November 2001 und erzählt in drei Teilen, wie im Lauf der Nullerjahre aus Egomanie und mit den Widerständen wachsender Weltmissachtung, der Verachtung der Arbeit, der Menschen, der Gegenwart und des Rechts, ganz langsam und für Holtrop selber nie richtig klar erkennbar, ein totaler Absturz ins wirtschaftliche Aus, das persönliche Desaster und das gesellschaftliche Nichts wird, so abgrundtief und endgültig, wie ein früherer Aufstieg unwiderstehlich, glorios und plötzlich gewesen war. Das war Ihr Leben, JohannHoltrop! Was sagen Sie dazu?
Isabelle und Jakob treffen sich am 11. September 2001. Sie heiraten und ziehen nach London, wo Jakob eine Stelle in einer Anwaltskanzlei antritt. Die beiden haben scheinbar alles, was ein junges, erfolgreiches Paar auszeichnet – und stehen doch mit leeren Händen da. Katharina Hacker erzählt meisterlich, wie sehr die Unfähigkeit zu Entscheidungen und Mitgefühl kollidiert mit der Sehnsucht nach existentiellen Erfahrungen.
Katharina Hackers Roman Die Habenichtse erzählt die Geschichte von Haben und Sein neu. Ihre Protagonisten sind in den Dreißigern, wissen alles und kennen doch eines nicht: sich selbst. Sie lassen sich treiben und sind gleichermaßen Getriebene. In einer flirrenden, atmosphärisch dichten Sprache führt Katharina Hacker ihre Helden durch Geschichtsräume und in Problemfelder der unmittelbarsten Gegenwart, ihre Fragen sind unsere Fra-gen: Wie willst du leben? Was sind deine Werte? Wie sollst und wie kannst du handeln? Die Qualität des Romans besteht darin, diese Fragen in Geschichten aufzulösen, die sich mit den plakativen Antworten von Politik und Medien nicht zufriedengeben
In der Constantinstraße, wo die Altbauten unter Denkmalschutz stehen, scheint alles in Ordnung. Hier wohnen die Aufsteiger und Übermütter. Aber Leonie verzweifelt am Doppelleben als Karrierefrau und Mutter. Judith findet Halt in der Anthroposophie und pflegt den Jahreszeitentisch für ihre Kleinen. Doch nachts helfen nur Tabletten gegen die Angst. Eines Tages versetzt der junge Marco die Nachbarschaft in Aufruhr.
Groß, gelb, gelassen: berückend selbstverständlich liegt eines Nachts ein Löwe im Arbeitszimmer des Philosophen Blumenberg. Die Glieder auf dem Teppich ausgestreckt, die Augen auf den Hausherrn gerichtet. Der gerät, mit einiger Mühe, nicht aus der Fassung, auch nicht, als der Löwe am nächsten Tag in seine Vorlesung trottet. Die Bänke sind voll besetzt, aber keiner der Zuhörer scheint ihn zu sehen. Das Auftauchen des Tieres wirkt nicht nur in das Leben Blumenbergs hinein. Auch Studenten geraten in seinen Bann, darunter der fadendünne Gerhard, ein glühender Blumenbergianer, und die zarte Isa, die sich mit vollen Segeln in den Falschen verliebt.
Eine Hommage an den unbekanntesten unter den großen deutschen Philosophen: Hans Blumenberg (1920-1996). Sibylle Lewitscharoff verwandelt sich sein bildhaftes Denken an, indem sie ihm auf halbem Weg zwischen Literatur und Theologie entgegen kommt. Mit unvergleichlichem Sprachwitz dichtet sie Blumenberg einen Löwen als Weggefährten an, erzählt von Tod und Auferstehung und erfindet Schicksale von Studenten, die in den Bann des Skeptikers gerieten. Kein biografisch angelegter Künstlerroman, sondern eine Fantasie über einen Eremiten, der sich nur in seiner Arbeitshöhle zu Hause fühlte, und ein ironisches Porträt des intellektuellen Zeitgeists zu Anfang der 80er Jahre.
Mit einem Bein steht er noch im Paradies, dafür hat die Geburtszange gesorgt. Immer ist er ein Kind geblieben, und wurde doch stets älter, und leben mußte er auch irgendwie. Nun ist er schon dreißig und hat seine große Liebe, einen VW-Variant Typ 3, mit dem fährt er zwischen den blühenden Rapsfeldern umher. Es ist das Jahr der ersten Mondlandung, 1969, als man in Frankfurt am Main noch Treppensteigen geht in den Bordellaltbauten um den Bahnhof herum. Ein Tag im Leben Onkel J.s. Hin- und hergerissen zwischen Luis Trenker, der Begeisterung für Wehrmachtspanzer und den Frankfurter Nutten, wird J. plötzlich als ein Mensch erkennbar, der außerhalb jeden Schuldzusammenhangs steht, noch in den zweifelhaftesten Augenblicken. Einer, der nicht zugreift, weil er es gar nicht kann, während die Welt um ihn herum sich auf eine heillose Zukunft wie auf die Erlösung vorbereitet.
Nach dem Tod ihres Schreib- und Lebensgefährten hat Friederike Mayröcker ihre Erinnerungen und Träume, Gespräche und Zitate, Eindrücke und Beobachtungen gesammelt und – immer wieder neu – auf den fruchtbaren Augenblick gewartet, da Schreiben und Ernten in eins und die Sätze wie reife Früchte zu Papier fallen. Entstanden ist ein anrührend unkonventionelles Buch der Erinnerung, das zugleich ein großer Abschied ist.
Ein Buch der Erinnerung, der großen Angst vor dem Verlust des Schreibens, des Erzählens und des Vergessens. Ein Text der Trauer und der Liebe, von irritierender Intensivität - für mich ist Friederike Mayröckers Und ich schüttelte einen Liebling der berührendste Text über die Liebe seit langem. Und das existenziellste Buch der Nominierungsliste.
Nathans Vater suchte sein Glück bei den Frauen, Nathans Mutter fand ihr Unglück bei den Männern. Nathan bricht auf in die Welt, um alles ganz anders zu machen. Was macht er ganz anders? Nichts. Nur die Bedingungen haben sich geändert, die Ansprüche. Nathan verkörpert die Generation der Nach-68er. Unter dem Diktat der Emmas und Bettys darf er seine Männlichkeit zwar ausleben, aber nicht mehr genießen.
Altfried Janich findet nach der Wiedervereinigung eine Stelle im »Ostschloss«, einem heruntergekommenen Barockbau, der eine psychiatrische Anstalt beherbergt. Er nimmt seinen Patienten gegenüber die Sonnenposition ein, bietet ihnen Orientierung und spendet Trost. Als sein Freund Odilo durch einen rätselhaften Autounfall stirbt, gerät er selbst auf die Nachtseite der Dinge. Tagsüber rücken ihm die Patienten zu nahe, nachts geistert er durch die Säle. Es plagen ihn Erinnerungen, seine Familiengeschichte holt ihn ein. Bald stellt sich die Gewissheit ein, dass er aus dem Schloss nicht mehr wegkommen wird.
Sichtbar und unsichtbar zu sein, das schließt sich keineswegs aus. Altfried Janich, Psychiater in einem ostdeutschen, zur Heil- und Pflegeanstalt umfunktionierten Schloss, weiß das von Profession her. In erhellender Absicht folgt der Roman Janichs Trauerprozess um einen toten Freund und malt zugleich ein historisches Stillleben dieses Landes, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit, Ost und West, das Schöne und das Hässliche, Realismus und Poesie bedingen und verwandeln. Was wir Wirklichkeit nennen mögen, ist einem lange nicht so bildreich, detailgenau und zugleich verzaubert entgegengetreten.
Richtig wohl fühlt sich der israelische Kulturwissenschaftler Ethan Rosen nur auf Reisen. Im Augenblick fliegt er von Tel Aviv, wo er seine Familie besucht hatte, nach Wien und schreibt an einem der polemischen Artikel, die er vorzugsweise unterwegs verfasst – diesmal gegen seinen größten Konkurrenten um eine Professur, Rudi Klausinger. Kaum in Wien angekommen, erreicht ihn die Nachricht, sein Vater liege im Krankenhaus. Zurück in Israel erfährt er, dass Klausinger nicht nur in beruflicher Hinsicht mit ihm konkurriert…
„Andernorts“ von Doron Rabinovici spielt zwischen Israel und Wien und verhandelt die großen Fragen des Judentums, der Schoah, des Erinnerns und Vergessens – und zwar auf unglaublich komische Weise. Es beginnt im Flugzeug: Der Kulturwissenschaftler Ethan Rosen, der in Wien mit seinem Kollegenfeind Rudi Klausinger um eine Professur an der Universität konkurriert, ist auf dem Weg nach Tel Aviv, wo sein Vater im Sterben liegt. Dort angekommen, findet er am Bettrand des Vaters ausgerechnet Rudi Klausinger, der behauptet, in Wahrheit sein Bruder zu sein. Ist die Geschichte ihrer Familie also die Geschichte einer Lüge? Und wenn ja: Welches Recht haben die Überlebenden von Auschwitz, die in den Erinnerungen die Wahrheit suchen, eine Familie, einen Staat basierend auf einer Lüge zu gründen? Das sind die Fragen, die der in Wien lebende Doron Rabinovici stellt: in seinem schlauen, reflektierten, komischen und sehr elegant erzählten Buch.
Anpassung ist alles, weiß Inge Lohmark. Schließlich unterrichtet sie seit mehr als dreißig Jahren Biologie. Daß ihre Schule in vier Jahren geschlossen werden soll, ist nicht zu ändern – in der schrumpfenden Kreisstadt im vorpommerschen Hinterland fehlt es an Kindern. Lohmarks Mann, der zu DDR-Zeiten Kühe besamt hat, züchtet nun Strauße, ihre Tochter Claudia ist vor Jahren in die USA gegangen und hat nicht vor, Kinder in die Welt zu setzen. Alle verweigern sich dem Lauf der Natur, den Inge Lohmark tagtäglich im Unterricht beschwört. Als sie Gefühle für eine Schülerin der 9. Klasse entwickelt, die über die übliche Haßliebe für die Jugend hinausgehen, gerät ihr biologistisches Weltbild ins Wanken. Mit immer absonderlicheren Einfällen versucht sie zu retten, was nicht mehr zu retten ist.
Die Helianau ist eine Internatsschule für Kinder, die an einer rätselhaften Störung leiden, dem Indigo-Syndrom. Jeden, der ihnen zu nahe kommt, befallen Übelkeit, Schwindel und heftige Kopfschmerzen. Hier unterrichtet der Mathematiklehrer Clemens Setz und wird auf seltsame Vorgänge aufmerksam: Immer wieder werden Kinder maskiert in einem Auto mit unbekanntem Ziel davongefahren. Als Setz beginnt, Nachforschungen anzustellen, wird er aus dem Schuldienst entlassen. Fünfzehn Jahre später berichten die Zeitungen von einem aufsehenerregenden Strafprozess um einen ehemaligen Mathematiklehrer, der unter Mordverdacht steht.
Der Roman „Indigo“ von Clemens J. Setz dreht sich um eine mysteriöse Krankheit und ist zugleich eine scharfsinnig-psychedelische Spurensuche nach allem, was als human gelten könnte. Man trifft auf menschliche Monster, mitfühlende Gegenstände und Männer, die in Zigarettenautomaten verschwinden. Wie funktionieren Mitleid und Empathie, wenn Religion, Moral und andere metaphysische Überbauten wegfallen? Ein phantastisches Labyrinth voller Sprachwitz, schwarzer Pädagogik und leuchtender Bizarrerien.
Vom Dresdner Villenviertel aus verfolgen Anne und Richard den Niedergang eines Gesellschaftssystems. Sie gehören einer Schicht an, die im Sozialismus nicht vorgesehen ist: Sie sind Bildungsbürger. Das System verlangt jedoch Anpassung. Die Alternativen wären Ausreise oder Widerstand. Tellkamp entwirft ein episches Panorama der untergehenden DDR, in der Angehörige dreier Generationen die Revolution von 1989 zutreiben.
Uwe Tellkamps großer Vorwenderoman ,Der Turm’ entwirft in einer Fülle von Szenen, Bildern und Sprachformen das Panorama einer Gesellschaft, die ihrem Ende entgegentaumelt. Am Beispiel einer bürgerlichen Dresdner Familie erzählt er von Anpassung und Widerstand in einem ausgelaugten System. Der Roman spielt in den verschiedensten Milieus, unter Schülern, Ärzten, Literaten und Politkadern. Uwe Tellkamp schickt seinen rebellischen Helden Christian Hoffmann auf eine Höllenfahrt, aus seiner Enklave in den Militärdienst bis zum Strafvollzug der NVA. Den Lesern erschließen sich wie nie zuvor Aromen, Redeweisen und Mentalitäten der späten DDR. Unaufhaltsam treibt das Geschehen auf den 9. November zu.
Alle sieben Jahre steht Bergenstadt kopf: Man feiert Grenzgang, ein dreitägiges Volksfest, und dabei werden nicht nur die Gemeindegrenzen abgeschritten. Es ist die Jagd nach dem Glück, die die Protagonisten aus Berlin und Köln in die hessische Provinz und von dort in einen Swinger-Club in Frankfurt führt. Schnell kommen vermeintliche Sicherheiten abhanden denn das Eis ist dünn, auf dem Lebensentwürfe errichtet wurden.
‚Grenzgang’, das ist der erste Roman eines jungen Wissenschaftlers, der sich mit seinem Debüt in die erste Reihe der deutschen Erzähler katapultiert. ‚Grenzgang’, das ist ein Fest in einem Kaff in Nordhessen, das nur alle sieben Jahre stattfindet, dann aber alle Grenzen sprengt. Die Menschen geraten außer Rand und Band, bis sie der Alltag wieder einfängt. Ein Heimatroman, der uns eine ganze Welt erschließt.
Hartmut Hainbach ist Ende fünfzig und hat alles erreicht: Er ist Professor für Philosophie und hat seine Traumfrau geheiratet, die er nach zwanzig Jahren Ehe immer noch liebt. Dennoch ist Hartmut nicht glücklich. Seine Frau ist nach Berlin gezogen, sodass aus der Ehe eine Wochenendbeziehung geworden ist, die gemeinsame Tochter hält die Eltern auf Distanz, der Reformfuror an den Universitäten nimmt Hartmut die Lust an der Arbeit. Als ihm das Angebot zu einem Berufswechsel gemacht wird, will er endlich Klarheit – über ein Leben, von dem er dachte, dass die wichtigen Entscheidungen längst getroffen sind.
Stephan Thomes Roman „Fliehkräfte“ führt uns seismographisch genau ein Milieu vor Augen, das einmal der geistige Mittelpunkt unserer Kultur war, heute jedoch mit Wucht auseinander fliegt. Es scheitert in diesem leise daherkommenden Roman nämlich nicht nur eine Figur an sich selbst, weil sie einsehen muss, dass ihr ganzes Leben ein falscher Kompromiss ist, es geht um eine viel größere Desillusionierung: Thome zeigt uns die Disproportionalität von alter, humanistischer Gelehrsamkeit und übermächtig profaner Gegenwart.
Stephan steckt in der Midlife-Krise und beschließt, eine Auszeit zu nehmen – auch von Frau und Kindern. Er will sich mit sich selbst beschäftigen und mit seiner Vergangenheit. Auf der Suche nach seiner Herkunft stößt Stephan auf die Spuren seines Bruders, den seine Eltern im Krieg auf der Flucht zurücklassen mussten. Er macht sich auf die Suche nach ihm, doch auf eine reale Konfrontation ist er nicht vorbereitet.
Schon früh steht für Marleen fest, dass ihr die Buchstaben eines Textes wichtiger sind als der Inhalt dahinter. Hineingeboren in eine erfolgreiche Werber- und Illustratorenfamilie, träumt sie von wahrhaft Großem: Sie möchte die perfekte Schrift erfinden. An der Kunsthochschule hat sie Rückenwind, ihr Pioniergeist treibt sie voran, und bald steckt sie mittendrin in der Jobwelt der Achtziger. Flexibilität ist gefragt und wird in der Welt der Werbung und des Designs immer wichtiger. Marleen ist ehrgeizig, überwindet alle Widerstände – und muss trotzdem aufpassen, dass sie ihren Traum nicht aus den Augen verliert.
Eine besondere, wohl neue Spielart realistischen Erzählens zeichnet Ulf Erdmann Zieglers Roman „Nichts Weißes“ aus. Gerafft, direkt, unpathetisch, minimalistisch bis in die verknappenden assoziationsreichen Wortzusammensetzungen hinein wird von einem Leben berichtet. Der Text zwingt einen beim Lesen sogar dazu, sich Zeit zu lassen. Auch die Figur selbst fasziniert, Marleen, eine junge Frau, klug, die viel will im Leben, nichts Banales, keine Karriere, sondern ihren Weg gehen und die unserer Zeit angehört.
Ein Vulkanausbruch auf Island legt den europäischen Luftverkehr lahm, Zehntausende Menschen stranden an den Flughäfen. Während die Bilder der Aschewolke um die Welt gehen, steht über der Themse ein strahlend blauer Frühlingshimmel. Auf der London Bridge begegnet die Erzählerin einem jungen Mann mit einem Feuermal im Gesicht. Jonathan verkauft die Obdachlosenzeitung. Die beiden sind einander eigenartig vertraut. Allmählich gehen die vergessenen Geheimnisse des einen in den anderen über. Dann aber verschwindet Jonathan plötzlich und die Erzählerin macht sich auf die Suche: nach Jonathan und nach sich selbst.
Ein strahlender Frühling liegt über London. Auf einer Themsebrücke begegnet die Erzählerin von Gertrud Leuteneggers Roman "Panischer Frühling" einem jungen Zeitungsverkäufer mit einem Feuermal im Gesicht. Die beiden so unterschiedlichen Menschen treffen sich nun täglich, vertrauen einander ihre Geschichten an, auch ihre Geheimnisse. - Ein schwebendes und tiefsinniges Buch, Großstadtroman und Kammerspiel in einem, getragen von einer so exakten wie musikalischen Sprache.
Als das Unglück geschieht, flieht Edgar Bendler aus seinem Leben. Er wird Abwäscher auf Hiddensee, jener legendenumwogten Insel, die, wie es heißt, schon außerhalb der Zeit liegt. Im Abwasch des Klausners, einer Kneipe hoch über dem Meer, lernt Ed Alexander Krusowitsch kennen – Kruso. Eine schwierige, zärtliche Freundschaft beginnt. Von Kruso, dem Meister und Inselpaten, wird Ed eingeweiht in die Rituale der Saisonarbeiter und die Gesetze ihrer Nächte, in denen Ed seine sexuelle Initiation erlebt. Doch der Herbst 89 erschüttert die Insel. Am Ende steht ein Kampf auf Leben und Tod – und ein Versprechen.
„Lutz Seiler beschreibt in einer lyrischen, sinnlichen, ins Magische spielenden Sprache den Sommer des Jahres 1989 auf der Insel Hiddensee – einem „Vorhof des Verschwindens“. Hier sammelten sich Sonderlinge, Querdenker, Freiheitssucher, Menschen, die aus der DDR fliehen wollten. Man darf die packende Robinsonade um den titelgebenden Kruso und den jungen Abwäscher Edgar als wortgewaltige Geschichte eines persönlichen und historischen Schiffbruchs lesen – und als Entwicklungsroman eines Dichters. Der Text entwickelt eine ganz eigene Dringlichkeit und ist nicht zuletzt ein Requiem für die Ostseeflüchtlinge, die bei ihrer Flucht ums Leben kamen. Lutz Seilers erster Roman überzeugt durch seine vollkommen eigenständige poetische Sprache, seine sinnliche Intensität und Welthaltigkeit.“
Winters Garten, so heißt die idyllische Kolonie jenseits der Stadt, in der alles üppig wächst und gedeiht, die Pflanzen wie die Tiere, in der die Alten abends geigend auf der Veranda sitzen, die Eltern ihre Säuglinge wiegen und die Hofhunde den Kindern das Blut von den aufgeschlagenen Knien lecken. Winters Garten, das ist der Sehnsuchtsort, an den der Vogelzüchter Anton mit seiner Frau Frederike nach Jahren in der Stadt zurückkehrt, als alles in Bewegung gerät und sich wandelt: die Häuser und Straßenzüge verfallen, die wilden Tiere in die Vorgärten und Hinterhöfe eindringen und der Schlaf der Menschen schwer ist von Träumen, in denen das Leben, wie sie es bisher kannten, aufhört zu existieren.
Eine Gruppe junger Männer verbringt ein Wochenende auf einer Berghütte. Als sie ins Tal zurückkehren, sind die Ortschaften verwüstet. Die Menschen sind tot oder geflohen, die Häuser und Geschäfte geplündert, die Autos ausgebrannt. Zu Fuß versuchen sie, sich in ihre Heimatstadt durchzuschlagen. Sie funktionieren, so gut sie können. Tagsüber streifen sie durch das zerstörte Land, nachts durch ihre Erinnerung. Auf der Suche nach einem Grund, am Leben zu bleiben. Reicht das Aufrechterhalten der wichtigsten Körperfunktionen, um von sich selbst sagen zu können, man sei am Leben? Die Antwort, die das Buch gibt, wird uns womöglich nicht trösten. Aber sie macht atemlos vor Spannung.
In einem Wohnheim für behinderte Menschen wird die junge Natalie Reinegger Bezugsbetreuerin von Alexander Dorm. Der Mann sitzt im Rollstuhl, ist von unberechenbarem Temperament und gilt als »schwierig«. Dennoch erhält er jede Woche Besuch – ausgerechnet von Christopher Hollberg, jenem Mann, dessen Leben er vor Jahren zerstört haben soll, als er ihn als Stalker verfolgte und damit Hollbergs Frau in den Selbstmord trieb. Das Arrangement funktioniere zu beiderseitigem Vorteil, versichert man Natalie, die beiden seien einander sehr zugetan. Aber bald verstört die junge Frau die unverhohlene Abneigung, mit der Hollberg seinem vermeintlichen Freund begegnet. Sie versucht, hinter das Geheimnis des undurchschaubaren Besuchers zu kommen und die Motive seines Handelns zu verstehen.
Der Ort ist prachtvoll, die Stimmung aufgeräumt: Renommierte Dante-Gelehrte aus aller Herren Länder tagen im altehrwürdigen Saal der Malteser auf dem römischen Aventin, mit Blick auf den Petersdom. Im Mittelpunkt steht die Göttliche Komödie, Dantes realismusgetränkter Einblick in die Welt nach dem Tod. Einer der eifrig Debattierenden ist Gottlieb Elsheimer, Frankfurter Romanist und nach eigener Einschätzung eher ein Kandidat fürs Fegefeuer als fürs Paradies. Bei aller Leidenschaft für den Forschungsgegenstand scheint ihm das zunehmend ausgelassene Verhalten der Kollegen seltsamer und seltsamer. Als die Kirchenglocken das Pfingstfest einläuten, bahnt sich ein Ereignis unbegreiflicher Art an.
Beamtin Fenia Xenopoulou soll das Image der Europäischen Kommission aufpolieren. Sie beauftragt den Referenten Martin Susman, eine Idee zu entwickeln. Die Idee weckt ein Gespenst aus der Geschichte, das für Unruhe in den EU-Institutionen sorgt. Kommissar Brunfaut muss aus politischen Gründen einen Mordfall auf sich beruhen lassen. Alois Erhart, Emeritus der Volkswirtschaft, soll in einem Think-Tank zur Zukunft Europas Worte sprechen, die seine letzten sein könnten. Und was macht Brüssel? Es sucht einen Namen – für das Schwein, das durch die Straßen läuft.
Das Humane ist immer erstrebenswert, niemals zuverlässig gegeben: Dass dies auch auf die Europäische Union zutrifft, das zeigt Robert Menasse mit seinem Roman ‚Die Hauptstadt‘ auf eindringliche Weise. Dramaturgisch gekonnt gräbt er leichthändig in den Tiefenschichten jener Welt, die wir die unsere nennen. Und macht unter anderem unmissverständlich klar: Die Ökonomie allein, sie wird uns keine friedliche Zukunft sichern können. Die, die dieses Friedensprojekt Europa unterhöhlen, sie sitzen unter uns – ‚die anderen‘, das sind nicht selten wir selbst. Mit ‚Die Hauptstadt‘ ist der Anspruch verwirklicht, den Robert Menasse an sich selbst gestellt hat: Zeitgenossenschaft ist darin literarisch so realisiert, dass sich Zeitgenossen im Werk wiedererkennen und Nachgeborene diese Zeit besser verstehen werden.
Gilbert Silvester, Privatdozent und Bartforscher, steht unter Schock. Letzte Nacht hat er geträumt, dass seine Frau ihn betrügt. In einer absurden Kurzschlusshandlung verlässt er sie, steigt ins erstbeste Flugzeug und reist nach Japan, um Abstand zu gewinnen. Dort fallen ihm die Reisebeschreibungen des klassischen Dichters Bashō in die Hände, und plötzlich hat er ein Ziel: Wie die alten Wandermönche möchte auch er den Mond über den Kieferninseln sehen. Aber noch vor dem Start trifft er auf den Studenten Yosa, der mit einer ganz anderen Reiselektüre unterwegs ist, dem Complete Manual of Suicide.
Mit der Intensität eines Haikus setzt Marion Poschmann ein unvergessliches Figurenpaar in die literarische Landschaft. Wie die beiden mit Matsuo Bashō und Selbstmordanleitung den Großstadttrubel und mythische Gefilde durchstreifen, ist pure Lesefreude! Der Roman ist eine Lebenswanderung, in der zwei konträre Charaktere mit gegensätzlichen Zielen ihr Selbst entfalten und ihrer Berufung entgegenlaufen. Jedes augenscheinlich noch so unbedeutende Detail wird Poesie. Poschmanns Perspektivwechsel zwischen Weitwinkel und Zoom, der inneren und der äußeren Welt erzeugen Tempo und subtile Spannung. Mit der Wanderung auf Bashōs Spuren schlägt sie eine Brücke über die Zeiten. Gekonnt, erfrischend locker, tiefenscharf.
Sie sind zu zweit, von Anfang an, die Zwillinge Alissa und Anton. In der Zweizimmerwohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre verkrallen sie sich in die Locken des anderen, wenn die Eltern aufeinander losgehen. Später, in der westdeutschen Provinz, streunen sie durch die Flure des Asylheims. Und noch später verschwindet Anton spurlos. Irgendwann kommt eine Postkarte aus Istanbul – ohne Text, ohne Absender. Alissa macht sich auf die Suche – nach dem verschollenen Bruder, aber vor allem nach einem Gefühl von Zugehörigkeit jenseits von Vaterland, Muttersprache oder Geschlecht.
Ein Debütroman mit großer sprachlicher und dramaturgischer Kraft: Vom postsowjetischen Moskau über ein Asylheim in der westdeutschen Provinz bis in ins heutige Istanbul, erzählt Sasha Marianna Salzmann von den Umbrüchen und der Verbundenheit der Flüchtlingsfamilie Tschepanow. Vor allem erzählt sie aber sicher, perspektivenreich, humorvoll und mit großer Unbedingtheit von der jungen Generation dieser Heimat-Wanderer, die um die eigene Identität kämpft: sprachlich, politisch und sexuell. Für die persönlichen Träume dieser weltumspannenden Generation dekliniert sie das Scheitern an der Realität mit einem faszinierend eigenen Ton wieder neu. Europa wird in diesem Buch größer, es wird aber noch keine Heimat.
Mitte des 19. Jahrhunderts überzieht eine christliche Aufstandsbewegung China mit Terror und Zerstörung. Ein deutscher Missionar, der bei der Modernisierung des Reiches helfen will, gerät zwischen die Fronten eines Krieges, in dem er alles zu verlieren droht, was ihm wichtig ist. An den Brennpunkten des Konflikts agieren ein britischer Sonderbotschafter, der seine inneren Abgründe erst erkennt, als er ihnen nicht mehr entgehen kann, und ein zum Kriegsherrn berufener chinesischer Gelehrter, der so mächtig wird, dass selbst der Kaiser ihn fürchtet.
China, um das Jahr 1860. Das riesige Reich ist stark angeschlagen: Ein sich rasch ausbreitender Aufstand religiöser Fanatiker droht die gesellschaftlichen Strukturen hinwegzufegen, während gleichzeitig europäische Mächte mit militärischer Gewalt einen Handelszugang erzwingen. Stephan Thome gelingt die beeindruckende Schilderung einer Zeit, in der alles aus den Fugen zu geraten scheint. Das Erzähltempo des breit angelegten Werkes bleibt gemächlich, wirkt aber nie ermüdend - ein Umstand, der zum einen der eleganten Sprache zu verdanken ist. Zum anderen aber auch dem beunruhigenden Gefühl, unsere Welt in einem Spiegel zu sehen, der über 150 Jahre in die Geschichte zurückreicht.
Nach Stationen bei der UN in New York und Burundi arbeitet Mira für das Büro der Vereinten Nationen in Genf. Während sie tagsüber Berichte über Krisenregionen und Friedensmaßnahmen schreibt, eilt sie abends durch die Gänge der Luxushotels, um zwischen verfeindeten Staatsvertretern zu vermitteln. Bei einem Empfang begegnet sie Milan wieder, in dessen Familie sie nach der Trennung ihrer Eltern im Frühjahr 94 einige Monate gelebt hat. Die Erinnerungen an diese Zeit, aber auch Milans unentschiedene Haltung zwischen gesuchter Nähe und schroffer Zurückweisung überrumpeln und faszinieren sie zugleich. Als seine Ehe zu zerbrechen droht und ihre Rolle bei der Aufarbeitung des Völkermords in Burundi hinterfragt wird, gerät auch Miras Souveränität ins Wanken, ihr Glaube, sie könne von außen eingreifen, ohne selbst schuldig zu werden. Was bedeuten Vertrauen und Verantwortung? Wie greifen Schutz und Herrschaft ineinander? Wie verhält sich Zeugenschaft zur Wahrheit? Und wer sitzt darüber zu Gericht? Hellsichtig und teilnahmsvoll geht Nora Bossong in ihrem virtuosen Roman diesen Fragen nach – in privaten Beziehungen wie auf der großen politischen Bühne – und setzt den Konflikten der Vergangenheit die Hoffnung auf Versöhnung gegenüber.
Alma und Friedrich bekommen ein Kind, das keinen Schmerz empfinden kann. In ständiger Sorge um ihren Jungen, ist es vor allem Alma, die ihn unaufhörlich auf körperliche Unversehrtheit kontrolliert. Jeden Abend tastet sie das Kind ab, um keine Blessur zu übersehen. Und nichts fürchtet die junge Mutter mehr als die unsichtbare Verletzung eines Organs, die ohne ein Zeichen bleibt. Halt findet Alma bei ihrer Großmutter, die jetzt, hochbetagt und bettlägerig und nach lebenslangem Schweigen, zu erzählen beginnt: vom Aufwachsen im Krieg, von Flucht, Hunger und der Kriegsgefangenschaft des Großvaters. Mit dem Kind auf dem Schoß, das keinen Schmerz kennt, sitzt Alma am Bett der Schwerkranken, die sich nichts mehr wünscht, als ihren Schmerz zu überwinden. Und in den Geschichten der Großmutter findet sie eine Erklärung für jene scheinbar grundlosen Gefühle der Schuld, der Ohnmacht und der Verlorenheit, die sie ihr Leben lang begleiten. Wie wird ein Kind zum Menschen, zu einem mitfühlenden sozialen Wesen, wenn es die Verwundbarkeit nicht kennt? Wenn es nicht versteht, wie sehr etwas wehtun kann? In eindringlichen Bildern erzählt Valerie Fritsch von einem Trauma, das über die Generationen weiterwirkt, sie lotet die Verletzlichkeit des Menschen aus und fragt nach dem Wesen des Mitgefühls, das unser aller Leben bestimmt.
Industrieschnee markiert die Grenzen des Orts, eine feine Säure liegt in der Luft, und hinter der Werksbrücke rauschen die Fertigungshallen, wo der Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizt. Hier ist die Ich-Erzählerin aufgewachsen, hierher kommt sie zurück, als ihre Kindheitsfreunde heiraten. Und während sie die alten Wege geht, erinnert sie sich: an den Vater und den erblindeten Großvater, die kaum sprachen, die keine Veränderungen wollten und nichts wegwerfen konnten, bis nicht nur der Hausrat, sondern auch die verdrängten Erinnerungen hervorquollen. An die Mutter, deren Freiheitsdrang in der Enge einer westdeutschen Arbeiterwohnung erstickte, bis sie in einem kurzen Aufbegehren die Koffer packte und die Tochter beim trinkenden Vater ließ. An den frühen Schulabbruch und die Anstrengung, im zweiten Anlauf Versäumtes nachzuholen, an die Scham und die Angst – zuerst davor, nicht zu bestehen, dann davor, als Aufsteigerin auf ihren Platz zurückverwiesen zu werden. Wahrhaftig und einfühlsam erkundet Deniz Ohde in ihrem Debütroman die feinen Unterschiede in unserer Gesellschaft. Satz für Satz spürt sie den Sollbruchstellen im Leben der Erzählerin nach, den Zuschreibungen und Erwartungen an sie als Arbeiterkind, der Kluft zwischen Bildungsversprechen und erfahrener Ungleichheit, der verinnerlichten Abwertung und dem Versuch, sich davon zu befreien.
Deniz Ohde schreibt mit bestechender Klarheit über einen Teil der Gesellschaft, der sonst viel zu selten zu Wort kommt. Es ist ein Text über ein (post-)migrantisches Arbeiter*innen-Milieu, ein Text über eine kleine Familie und ihren hoffnungsvollen Wunsch dazu zu gehören in einem Bildungs- und Leistungssystem, das sein Versprechen von Chancengleichheit nicht einhalten kann. Dabei lässt Ohde nicht nur eine Welt und ihre Akteur*innen plastisch werden, die sonst hinter den Türen zugerümpelter Mietwohnungen verborgen bleibt, sie schafft es auch, ganz ohne Klischees und didaktischen Zeigefinger auszukommen.
Bengt Claasen sitzt im Auto, sein ganzes Hab und Gut im Kofferraum und das Halsband seiner verstorbenen Hündin auf dem Armaturenbrett. Dort, wo es herunterfällt, will er anhalten und ein neues Leben beginnen. Er landet schließlich in Zandschow, einem Nest im äußersten Norden. Die Bewohner des Orts rund um „Getränke-Wolf“ folgen einem strengen Wochenplan. Mit den prekären Verhältnissen mitten in der Pampa finden sie sich hier nicht mehr ab. Ihr Zandschow ist Sansibar, hier kann man arm sein, aber paradiesisch leben, in viel Verrücktheit.
Bengt Claasen verschlägt es aus einer Lebenskrise in ein nordostdeutsches Provinznest. Dort trotzen Menschen mit aufsässigen Fantasien einer ihnen nicht wohlgesonnenen Realität. Sie haben ihr Dorf zu Sansibar, ihren Teich zum Ozean umfantasiert, strukturieren ihre Gegenwelt mit hinreißend absurden Ritualen. „Zandschower Klinken“, oft einprägsam wie Musik, verströmt Freiheit auch durch seine formale Radikalität. Politisch aufgeladen, bricht es zugleich mit jeder Diskursschwere, weil es sich im Spiel mit Wirklichkeit und Sprache keine Grenzen aufzwingen lässt. Eine bittere, märchenhaft verschlüsselte Familiengeschichte kontrapunktiert den Ausstieg in die Utopie, und dennoch: Dieses Buch lässt einen freier atmen.
„Was sehen sie, wenn sie mit ihren Sowjetaugen durch die Gardinen in den Hof einer ostdeutschen Stadt schauen?“, fragt sich Nina, wenn sie an ihre Mutter Tatjana und deren Freundin Lena denkt, die Mitte der neunziger Jahre die Ukraine verließen, in Jena strandeten und dort noch einmal von vorne begannen. Lenas Tochter Edi hat längst aufgehört zu fragen, sie will mit ihrer Herkunft nichts zu tun haben. Bis Lenas fünfzigster Geburtstag die vier Frauen wieder zusammenbringt und sie erkennen müssen, dass sie alle eine Geschichte teilen.
In einer US-amerikanischen Kleinstadt bringt eine zwanzigjährige Telefonistin 1953 ein Kind zur Welt. Noch in derselben Nacht gibt sie es zur Adoption frei. Bald sehen sich die betreuenden Kinderschwestern mit einem aus ihrer Sicht schwerwiegenden Verdacht konfrontiert: Das Baby scheint, anders als von der Mutter angegeben, nicht »weiß« zu sein. Eine Sozialarbeiterin soll die wahre ethnische Herkunft des Kindes ermitteln. Dazu muss sie allerdings den Vater des Kindes ausfindig machen, dessen Identität die leibliche Mutter nicht preisgeben will.
Im Mai und im September 1976 erschüttern zwei schwere Erdbeben eine Landschaft und ihre Bevölkerung im nordöstlichen Italien. An die tausend Menschen sterben unter den Trümmern, Zehntausende sind ohne Obdach, viele werden ihre Heimat für immer verlassen. Sieben Bewohnerinnen und Bewohner eines abgelegenen Bergdorfs erzählen von ihrem Leben, in dem das Erdbeben tiefe Spuren hinterlassen hat, die sie langsam zu benennen lernen.
Worms, Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Peter Bender, ehemals Fliegerleutnant des Deutschen Heeres, macht sich als Gründer einer neuen Religionsgemeinschaft und mit der Proklamation der sogenannten Hohlwelt-Theorie einen Namen: Die Menschheit, so diese Theorie, lebe nicht auf, sondern in einer Kugel, außerhalb derselben existiere nichts. Benders Gemeinde bleibt überschaubar, dennoch wird er wegen der Verbreitung aufwieglerischer und gotteslästerlicher Flugschriften zu einer mehrmonatigen Kerkerhaft verurteilt. Als sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten herumspricht, dass seine Frau Jüdin ist, wenden sich selbst seine engsten Gefolgsleute von ihm ab. Die Benders verarmen, die Repressionen gegen seine Frau werden bald unerträglich, bis die Familie 1942 verhaftet und deportiert wird. Nur der Sohn überlebt das Konzentrationslager.